Niklas Luhmann (1927-1998) ist einer der wirkmächtigsten deutschen
Soziologen des 20. Jahrhunderts. In einer nahezu vierzigjähriger
Forschungs- und Lehrtätigkeit entwickelte er auf der Basis der
philosophischen Tradition einerseits und der Rezeption der
unterschiedlichsten Konzepte der modernen Wissenschaften andererseits
eine funktionalistisch orientierte Systemtheorie, die von sich
beansprucht, alle sozialen Phänomene in einer theorieeinheitlichen
Sprache beschreiben zu können. Dieses singuläre Werk wird dokumentiert
durch eine Vielzahl von Publikationen, die letztlich alle Teil eines
Forschungsprojekts waren: der Entwicklung einer Theorie, die eine
sachangemessene Beschreibung der modernen Gesellschaft möglich macht.
Luhmanns Karriere sieht zunächst nicht wie die eines Wissenschaftlers
aus: ein Studium der Rechtswissenschaft in Freiburg (1946-49), an das
sich das übliche Referendariat in Lüneburg, seiner Geburtsstadt,
anschließt; danach eine achtjährige (1954-62) Tätigkeit in der
öffentlichen Verwaltung des Landes Niedersachsen, insbesondere im
Kultusministerium. In der Referendariatszeit schreibt er an einer
juristischen Promotionsarbeit über politische Beratung, der fertige Text
wird aber nicht eingereicht. Schon in diesen Jahren und dann
insbesondere als Verwaltungsangestellter in Hannover befasst er sich in
seiner Freizeit mit theoretischen Arbeiten, die von vornherein nicht der
Rechtswissenschaft, sondern der Philosophie (Phänomenologie), der
Organisationswissenschaft und der soziologischen Theorie galten. Ein
Studienaufenthalt in Harvard (1960-61) bei Talcott Parsons, dem damals
führenden soziologischen Systemtheoretiker, und der Wechsel in eine
Forschungsstelle an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in
Speyer (1962-65) deuten den Übergang in eine andere berufliche Laufbahn
an. Luhmanns erste Bücher, die bereits in dieser Zeit im Jahresrhythmus
erscheinen (u.a. „Verwaltungsfehler und Vertrauensschutz" (1963), „Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet" (1965) und „Theorie der Verwaltungswissenschaft" (1966))
sind dem Tätigkeitsort gemäß verwaltungswissenschaftlich, in den
Aufsätzen aber wird seit 1962 eine eigenständige soziologische Theorie
sichtbar.
Wir besitzen von Luhmann keine Jugendschriften, auch nicht im Nachlass
(mit einer Ausnahme: seiner juristischen Promotionsschrift "Die
Organisation beratender Staatsorgane" aus den 1950er Jahren); er tritt
uns von vornherein als ein selbständiger Theoretiker entgegen, der sich
eng an die von Talcott Parsons in Harvard entwickelte Systemtheorie
anlehnt, aber sie neu aufbaut. Luhmann benutzt auch verborgen scheinende
kleine Einzelstücke des Parsonianischen konzeptuellen Apparats, aber
dennoch baut er nicht an ihn an, sondern fängt neu an. Das ist
wissenschaftshistorisch gesehen eine seltene Konstellation. Einige
Grundentscheidungen und Differenzpunkte seien kurz benannt: Viel
entschiedener als bei Parsons wird System/Umwelt als die
Leitunterscheidung der Theorie behandelt und Umwelt als etwas gesehen,
das keine Ordnungsgarantien enthält. Systembildung wird damit
unwahrscheinlicher. Luhmann arbeitet mit einer offenen und
erweiterungsfähigen Liste von Funktionen und Funktionssystemen und ihn
interessiert am Funktionsbegriff nicht die klassifikatorische Leistung,
sondern die Eröffnung von Vergleichsmöglichkeiten: Welche alternativen
Möglichkeiten der Funktionserfüllung sind zu identifizieren? Jedes
hierarchisch-deduktive Moment wird aus der Theorie herausgenommen,
stattdessen ist die Theorie ein heterarchisches Arrangement von
Teiltheorien – Evolutionstheorie, Kommunikationstheorie,
Differenzierungstheorie –, das darin die Form der modernen Gesellschaft
simuliert. Der Begriff der Zeit wird nicht länger an die Physik oder an
Kant delegiert, vielmehr wird Zeit als eine der drei konstitutiven
Dimensionen von Sinn aufgefasst, und insofern ist die Theorie der Zeit
eine unhintergehbare Aufgabe des Soziologen. Diese wird verbunden mit
einer neodarwinistischen Evolutionstheorie‚ die das bei Parsons
vorherrschende Denken in Entwicklungstrends ablöst. An die Stelle der
Parsonianischen Vorstellung vieler jeweils durch regionale Solidaritäten
integrierter Gesellschaften tritt bei Luhmann schon am Ende der 1960er
Jahre das Postulat einer nicht durch Solidarität, sondern über
kommunikative Vernetzungen realisierten Weltgesellschaft als des
einzigen heute existierenden Gesellschaftssystems. Das zwingt dazu, den
gesamten konzeptuellen Apparat der Soziologie umzuarbeiten. Bereits
innerhalb der ersten Phase der Luhmannschen Theoriearbeit werden alle
diese Facetten der Theorie vorgestellt, so dass mit dem ersten Band der „Soziologischen Aufklärung“ (1970) der Anspruch des Unterfangens und die bereits erreichten Ergebnisse erstmals für ein größeres Publikum sichtbar werden. (...)
INFO LINK
https://niklas-luhmann-archiv.de/person/person-und-werk